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Persönliche Schicksale von Juden, wirtschaftliche Verlust- und Erfolgsgeschichten sowie ein Blick in die Geschichte der jüdischer Gemeinden in Duisburg seit dem 19. Jahrhundert. Das bot Privatdozent Dr. Ludger Heid, Forscher und Buchautor, vergangenen Montag beim „virtuellen Rundgang“ durch die Altstadt der Hafenstadt zwischen Ruhr, Innenhafen und Rhein. Das katholische Bildungswerk hatte eingeladen; im Karmel-Gemeindezentrum zeichnete der Historiker und Literaturwissenschaftler anhand von Bildern und mündlichen Forschungsberichten nach, was betroffen machte. Allerdings, ohne virtuell konstruiertes „Kino“ mit Animationen, städtischen Lage-Karten oder Erlebnisse eines Rundgangs bieten zu können.

Das schmälerte den Erfolg der Veranstaltung vor rund 40 Zuhörerinnen in der Karmelgemeinde nicht. Die Gäste erfuhren von aus Russland geflüchteten Ostjuden, deutschen Juden auch in Nadelstreifen und nicht-jüdischen Aufsteigern, die sich in späterer Zeit nach 1933 an blühenden jüdischen Geschäften in der Beekstraße bereicherten.

Seine Ausführungen über die Einwanderer begann Heid in der Zeit des endenden 19. Jahrhunderts „Anders als die liberalen und für den Kaiser patriotischen deutschen Juden waren die zugewanderten Ostjuden kleine Leute.“ Heid berichtete von Schneidern, Hausierern mit Bauchladen, Milch- und Obstverkäufern. „Infolge des Wachstums der Industriestadt ergab sich für sie wirtschaftlich die Nische, die zum Beispiel den Verkauf von Stoffen gegen Ratenzahlungen oder Handel auf Basaren möglich machte.“ Diese Ostjuden selbst waren als Sündenböcke und nach Pogromen in Russland hierher gekommen. Heid: „Beinahe nach jeder sozialpolitischen und wirtschaftlichen Krise im Zarenreich mussten sie fliehen. Denn dafür machte man sie verantwortlich.“ In Deutschland blieb ihnen nichts anderes als auch mit Altwaren (übersetzt „Tineff“) oder Lumpen zu handeln. Rund um Universitäts-, Beek- und Münzstraße entstand so ihr Viertel. Heid: „Typisch gekleidet und deutlich erkennbar lebten sie hier, beteten und arbeiten dort auf engstem Raum.“ Duisburg wurde mehr als  andere Großstädte für Konflikte der Ostjuden mit deutschen Juden reichsweit bekannt. Die allerdings fühlten sich nach 1900 der Gesellschaft des ausgehenden Kaiserreichs voll zugehörig.

Im Karmel bot Heid dann Detailkenntnisse zum Niedergang der großen jüdischen Geschäfte Cohen/Epstein sowie der Gebrüder Alsberg, Beekstaße. Während Alsberg von einem früheren Verkäufer, Abteilungsleiter und Kaufhof-Einkäufer übernommen wurde, konnte Franz Fahning, dynamischer Karstadt-Manager ebenfalls Mitte der 1930-er Jahre das gegenüberliegende Haus Epstein und Cohen übernehmen. Helmut Horten, so Heid, der Alsberg-Käufer, startete auch auf der Basis seines NS-Parteibuchs eine bundesweite Karriere, die trotz des Krieges nicht abbrach.

Den Mann, der das blühende Cohen/Epstein-Haus  allein zum auf 70 Prozent reduzierten Preis der vorhandenen Lager-Waren übernehmen konnte, stellte der Referent des Abends mit dessen Werbung von 1936 (Duisburger Generalanzeiger) vor. „Das ist Horten. Jawohl. Sie haben richtig gelesen. Das Alsberg-Haus…ist in arischen Besitz übergegangen.“ Als bereinigtes Faksimile findet sich 1986 dieselbe Anzeige in der Festschrift zum 50. Geburtstag der Horten AG. Dr. Heid berichtete: „Allerdings heißt es dort ,Das Alsberg-Haus ist in anderen Besitz übergegangen´.“ Der in Duisburg gestartete Kaufhaus-König hatte sein Unternehmen nach einer Flucht vor der Steuerfahndung in die Schweiz und Jahre vor dem Jubiläum gewinnbringend verkauft.

Ernst Lauter dagegen, persönlich haftender Alsberg-Gesellschafter, gelang es 1939 mit seiner Frau Berta in die USA zu fliehen. Er verdiente sein Geld als Arbeiter einer Großschlächterei. Seine Mutter Amalie erhielt kein Ausreise-Visum, sie musste erst ins Duisburger „Judenhaus“ und wurde dann nach Theresienstadt und Auschwitz deportiert. Heid konstatierte: „Mit ihrer Ermordung verlor die Stadt eine ihrer größten Wohltäterinnen, die sich stets um Bedürftige und Deklassierte Menschen in ihrer Heimatstadt gekümmert hat.“ uw